U2 eröffnen futuristische Kugelhalle in Las Vegas: Die Konzerthalle der Zukunft - WELT (2024)

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Ist Größe wichtig? Im Austausch unter Frontmännern, wer von ihnen es am ehesten schaffe, immer wieder die größte Rockshow der Welt zu inszenieren, hat Mick Jagger in dieser Frage mal gegen seinen Freund und Kollegen Bono gestichelt. Der hatte mit U2 1997 eine 60 Meter breite und 25 Meter hohe Bühne mit einem gelben Pseudo-McDonalds-Lichtbogen bauen lassen, ausgestattet mit einer 700 Quadratmeter großen Leinwand, das war seinerzeit der größte LED-Schirm der Welt. Als Gag gab es noch eine zweite, ausfahrbare Bühne, bestehend aus einer 25 Meter hohen verchromten Zitrone. Die zischte und spie Rauch, wenn sie sich öffnete. „Das“, flachste Jagger damals, „ist ein bisschen wie ‚Star Wars‘, nicht wahr?“

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Heute, 26 Jahre später, bieten U2 nicht nur ein bisschen „Star Wars“. In Las Vegas haben sie jetzt eine Art Todesstern in Betrieb genommen. Größe spielt auch dabei eine nicht unerhebliche Rolle: Es ist die größte kugelförmige Halle der Welt, The Sphere heißt sie und sieht der von „Star Wars“-Schöpfer George Lucas erdachten Todesstern-Raumstation verblüffend ähnlich. 2,3 Milliarden Dollar hat die 112 Meter hohe Murmel aus Aluminium nach Angaben der Betreiberfirma MSG Entertainment gekostet. 19.000 Zuschauer finden darin Platz. Für viele der aufwendigen visuellen Effekten war unter anderem ILM, die von George Lucas gegründete Special-Effects-Firma, zuständig.

Spektakulär ist nicht nur die Architektur. Die Außen- und Innenfläche bieten mit 1,2 Millionen Leuchtdioden die – wieder einmal – größte LED-Leinwand der Welt. Darin ist ein von der Berliner Firma Holoplot entwickeltes neues Lautsprechersystem integriert, das den Schall gezielt steuern kann, sodass an jedem Platz ein identischer Sound ankommt. Die badische Firma Techmopart steuerte technische Komponenten dazu bei, die Aluminiumhülle der Sphere baute das Koblenzer Unternehmen Kalzip. Viel High-Tech-Know-How aus Deutschlands. Oder: „Vorsprung durch Technik“, wie es Bono 1993 mal auf Deutsch in dem Song „Zooropa“ sang, in Anlehnung an einen Auto-Werbeslogan.

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Seit U2 nun diese neue Halle in der Wüstenstadt in Nevada eröffnet haben, werden YouTube und andere Social-Media-Kanäle mit Konzert-Aufnahmen geflutet. Im Unterschied zu früher wird diesmal nicht nur eine „Greatest Show on Earth“ gepriesen, sondern nichts weniger als die Konzerthalle der Zukunft. Und was all die Augenzeugenberichte von Kritikern wie Fans verbindet, ist die Erkenntnis, nicht vollumfänglich erfasst zu haben, welche Art von Darbietung man da eigentlich erlebt hat – ein Konzert, eine Performance, ein Multi-Media-Spektakel?

Auch im dritten Konzert der bis 16. Dezember 2023 angesetzten Konzertreihe von U2 in Las Vegas merkt man den Musikern an, dass sie sich selbst mit einer Mischung aus Faszination und Ehrfurcht in dieser Kugel-Architektur und ihren „Larger than Life“-Videoeinspielungen bewegen. U2-Gründungsmitglied und -Schlagzeuger Larry Mullen Jr. ist allerdings nicht dabei. Er muss nach einer Rücken-Operation pausieren und lässt sich von dem Niederländer Bram van den Berg von der Band Krezip vertreten. Der macht seine Sache an diesem Abend mehr als ordentlich. Er ist das erste Mal, dass Mullen bei einer U2-Tournee fehlt. Er sei dankbar, dass van den Berg für ihn eingesprungen sei, schreibt Mullen in dem Konzert-Programm, der Kollege solle es sich jedoch nicht zu bequem dort oben machen, er selbst arbeite jedenfalls daran, körperlich schnell fit zu werden und hoffe, bald zurück zu sein.

Was genau ist das also für ein Spektakel, das sich da vor einem in der Tiefe des Raums abspielt? Auf dieser kleinen Bühne, die wie ein leuchtender Schallplattenspieler aussieht – inspiriert von dem von Brian Eno designten Kunstwerk „Turntable“? Und auf der riesigen gewölbten Projektionswand dahinter, die alle in der Kugel, die Band und ihr Publikum, umschließt? In den steil übereinander gestaffelten Tribünen kommt man sich vor wie vor einem Absprung von einem Zehnmeterturm. „Hello, hello, I am at a place called Vertigo“, wird Bono später singen. Höhenangst, aber nur ein bisschen.

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Bei keinem Song wird das so deutlich wie bei „Even Better than the Real Thing“ von ihrem Album „Achtung Baby“. Mehr als 30 Jahre nach seiner Veröffentlichung spielen sie das Werk in Las Vegas erstmals in Gänze. „We’ll slide down on the surface of things“, singt Bono, während sich im Hintergrund eine Oberfläche mit unzähligen Bildern zusammensetzt. Ein sich ausbreitendes filmisches Wimmelbild mit goldenen Schallplattenspielern, Spielautomaten aus Las Vegas und vielen Elvis-Fotos. Am Ende erwächst daraus eine düstere, fußballfeldgroße Büste, ein KI-generierter Elvis, ikonisch und bedrohlich. Der King of Rock’n’Roll und Las Vegas, beides Metaphern für das Versprechen des Amerikanischen Traums – und für seine Abgründe. Das Wimmelbild scheint alle in sich aufzusaugen.

Auch bei „Zoo Station“ überlassen U2 der Kugel-Leinwand die Hauptrolle. Der Song stammt ebenfalls von „Achtung Baby“, für dessen Aufnahmen die Iren in den Monaten nach dem Mauerfall, vom Oktober 1990 bis Januar 1991, in den Berliner Hansa-Studios arbeiteten. Damals waren sie auf der Suche nach einem neuen Sound, einer neuen Band-Identität und wollten sich von dem Wandel und der Aufbruchstimmung in Berlin inspirieren lassen. „Zoo Station“ bezeichnet weniger den realen Ort als vielmehr einen Zustand der Unruhe und der Getriebenheit. Das funktioniert auch in der Wüste Nevadas. „I am ready for the push“, versichert Bono, während die dunkle Wand hinter ihm allmählich von weißen Lichtstreifen in Form eines Kreuzes erst geteilt und dann auseinander geschoben wird – so in etwa muss man sich das also vorstellen, wenn man aus dem Geburtskanal herauskommt.

Wer filmt, kann nicht klatschen

Der Klang dazu ist bestechend klar, druck- und kraftvoll – was man bei Konzerten dieser Größenordnung so gut wie nie erlebt. Nach acht Songs aus dem „Achtung Baby“-Album gönnt die Band sich und den Augen der Zuschauer eine Auszeit von der visuellen Reizüberflutung. Sie spielen Lieder vom früheren Doppelalbum „Rattle And Hum“, das stärker vom Rhythm’n’Blues und Country geprägt war. Auf der schwarzen Leinwand sieht man dazu jetzt nur die überlebensgroßen Gesichter der Musiker. Bewegend ist die Ballade „Love Rescue Me“, geschrieben von Bono und Bob Dylan. Die trägt der Sänger nur mit Gitarrist The Edge vor, der dazu überraschenderweise nur Bass spielt. Weniger ist manchmal mehr. Das beherrschen sie auch.

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Das Eigentümliche an diesem Konzert ist, dass sich die üblichen Rituale, die man von U2-Konzerten aus mehr als 40 Jahren kennt, hier nicht wiederholen. All die Begeisterungsschreie, die immer wie Tsunamis über der Band hereinbrechen, wenn sie ihre Überwältigungshymnen spielen, bleiben weitgehend aus. Stattdessen gibt es oft einen gedämpften, für U2-Verhältnisse fast andächtigen Applaus. Was zum einen daran liegt, dass bei diesem Konzert scheinbar noch mehr Menschen als sonst mit ihren Handys verwachsen sind. Und wer ständig versucht, möglichst viel von den visuellen Eindrücken festzuhalten, kann nicht klatschen. Andere wiederum stehen einfach nur da und staunen.

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Erst im letzten Teil des Konzerts, wenn sie ihre großen Hits wie „Where the Streets Have No Name“, „Elevation“ oder „With or Without You“ hintereinander spielen, wird die Leinwand in ihrer ganzen Größe ausgefüllt. Mal blickt man auf eine Panorama-Aufnahme von Las Vegas bei Nacht, sieht Autos im Hintergrund vorbeifahren, während die Band weiterspielt. Dann verschwindet die Stadt allmählich im Zeitraffer, löst sich auf. Die Landschaft verwandelt sich in ihren Urzustand zurück: „Where the Streets Have No Name“ – die Wüste lebt. Und so bildgewaltig geht es weiter: „Sky falls, you feel like, it’s a beautiful day.“ Der Himmel fällt hernieder. Und dieser Himmel, der sich über der Menge in der Kugel ausbreitet, ist zumindest in diesem maximal gefühlsverstärkten Augenblick „better than the real thing“.

Es ist nicht so, dass die visuelle Überwältigung die Band und ihre Musik in den Schatten stellt. Aber der Star des Abends ist diese Kugel, sie nimmt U2, ihre Songs und die Zuschauer in sich auf. Und U2 stellen sich ganz in den Dienst dieses Raumschiffs, im Wissen darum, dass seine Architektur eine besondere Wirkmacht hat. Eine Wirkmacht, die sich in herkömmlichen Arenen nicht auf diese Weise einstellen würde – selbst dann nicht, wenn man dort noch größere LED-Schirme aufstellte. U2 sind an diesem Ort Performance-Künstler, wir sehen sie als Akteure auf einem Plattenspieler, nicht als Rockstars. Und, nein, das ist nicht die „größte Rockshow der Welt“, aber eine, die man in der an megalomanischen Momenten nicht armen Geschichte dieser Band so noch nicht erlebt hat.

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Hinweise auf eventuelle musikalische Quantensprünge von U2 in der Zukunft erlaubt diese Show eher weniger. Der einzige neue Song, „Atomic City“, wurde eigens zu diesem Event veröffentlicht. Der Text bietet Assoziationen zu dem nördlich von Las Vegas gelegenen Kernwaffen-Testgelände in den 50er- und 60er-Jahren. Das wird spielerisch verknüpft mit dem Gedankenspiel, dass eine neue, sicherere Form der Atomenergie helfen könnte, die Folgen des Klimawandels abzumildern: „Atomic sun for every one.“ Es ist kein schlechter Song, eine Hommage an The Clash, die man gewiss nicht abstellen würde, wenn man sie im Radio hörte. Nur ist es kein Lied, das einen Paradigmenwechsel ankündigt, wie das bei „Achtung Baby“ vor mehr als 30 Jahren der Fall war.

Wenn die Musiker am Ende auf ihrer pink-roten Plattenspieler-Bühne stehen, ins Publikum schauen und selbst immer wieder die riesige Leinwand über sich zu bestaunen scheinen, ist das im Grunde dann doch kein „Star Wars“-Moment. Die Szene erinnert eher an Steven Spielberg und seinen Science-Fiction-Klassiker „Unheimliche Begegnung der Dritten Art“. Als darin ein lichtüberflutetes Raumschiff in der Wüste Amerikas landet, stehen die Menschen staunend davor. Als Spielberg bei der Berlinale in diesem Jahr den Ehrenbären für sein Lebenswerk bekam, hielt Bono die Laudatio, nannte ihn die Seele des Kinos, er habe die Herzen der Menschen berührt – durch Schockmomente genauso wie durch Entzücken.

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So ähnlich haben es U2 in der Sphere gemacht, sie ließen Blitze über die Leinwand zucken, machten ein bisschen Höhenangst oder verstörten mit einem düsteren KI-Elvis – nur um ihre Zuschauer dann wieder mit Aufnahmen vom Neondschungel von Las Vegas und den Weiten der Wüste Nevadas zu versöhnen. In Spielbergs Ufo-Film steigt am Ende ein von Richard Dreyfuß gespielter Kleinstädter zu den mutmaßlich freundlichen Aliens ins Raumschiff, begleitet sie als Repräsentant der Menschheit. Nach dem Konzert in The Sphere hat man den Eindruck, dass viele Zuschauer es gerne genauso machen würden. Draußen stehen sie noch länger vor dieser seltsamen Kugel, die nicht von dieser Welt scheint. Sie schauen auf die Hülle, die 24 Stunden lang leuchtet und auch nachts immer neue Projektionen zeigt – von Quallen, Smileys, Walen oder Astronauten.

Es ist ein exklusives, aber nicht gerade günstiges Vergnügen, sich in diese Sphere zu begeben: Die billigsten Tickets kosten 249 Euro, die teuersten 16.000 Euro. Ob U2 ihre Spielzeit in Las Vegas über den 16. Dezember hinaus verlängern könnten, haben sie bislang offen gelassen. Unabhängig davon plant der Betreiber im Londoner Osten, in Stratford, eine zweite Kugelhalle zu bauen. Die Website dazu gibt es schon, nur regt sich in London Widerstand gegen das Projekt. Anwohner in den angrenzenden Gemeinden befürchten Lichtverschmutzung durch eine Riesenkugel, die 24 Stunden lang Projektionen zeigt. In Las Vegas, der Stadt der Lichter, die nie ausgehen, können sie das nicht nachvollziehen.

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